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Sie waren schon immer da!

Eine immer wiederkehrende Frage in unseren Workshops, die dann gar keine Frage ist, lautet: In einem historischen Stoff geht ja leider keine Diversität!? Eine Selbstverständlichkeit, die sich nicht in Worte fassen lässt, und zugleich Unsicherheit ringen miteinander, während der Blick auf uns gerichtet eines erwartet: Bestätigung. In der Regel bestätigen wir, dass historische Stoffe ein bisschen anders betrachtet werden müssen. Ich merke jedoch, dass mich die Frage zunehmend beschäftigt, und zwar, weil die Gründe, warum sie gestellt wird, sich mir bei genauerem Nachdenken nicht erschließen. Lasst uns gemeinsam nachdenken!

Eine der frühesten Darstellungen eines Menschen mit den charakteristischen Merkmalen des Down-Syndroms auf einem Altarflügel in Aachen, ca. 1505
Sailko, CC BY 3.0 https://creativecommons.org/licenses/by/3.0, via Wikimedia Commons

Wenn wir über Diversität in Geschichten reden, dann reden wir nicht ausschließlich, aber vorwiegend über folgende unterrepräsentierte und marginalisierte Gruppen: Frauen, BIPoC, LGBTTIQ* und Menschen mit Behinderung. Frauen kommen in historischen Stoffen vor. Man kann die Hälfte der Menschheit nicht einfach so ignorieren. Problematisch in der Darstellung ist, dass sie oft noch stereotypischer erzählt werden als sonst. Schließlich dachten wir gestern noch, in der Steinzeit waren Männer Jäger, Frauen Sammlerinnen. Über das Mittelalter kursieren unglaubliche Beschreibungen, wie so ein Frauenleben war. Sehr amüsant hier von Petra Schier widersprochen. Frauen also beiseite: was genau bedeutet es, dass BIPoC, LGBTTIQ* und Menschen mit Behinderung in historischen Stoffen nicht vorkommen können? Was sind die Gründe, die anscheinend nicht einmal erwähnt werden müssen?

Ethnie, Sexualität und Behinderung in historischem Kontext

Nehmen wir das Beispiel von Menschen mit Behinderung. Sie sind, wie ein Vortrag von Wiebke Schär aus dem Jahr 2014 darlegt, schon immer da gewesen. Früher hatten sie keine Rechte und standen außerhalb der Gesellschaft. Mehr Glück hatten Narren und Zwerge, die an Höfen lebten, Menschen unterhielten und zum Lachen brachten. Einer der letzten Hofzwerge in Europa hieß Perkeo und wurde um 1700 geboren. Er arbeitete als Mundschenk im Heidelberger Schloss unter Kurfürst Karl Theodor. Aufgrund von Kriegen gab es außerdem viele Menschen, denen Gliedmaßen fehlten. Wer konnte, leistete sich eine Prothese. Im 16. Jahrhundert gab es die berühmte „Wickiana“, eine große Sammlung von Flugblättern, die von sogenannten Wundergeburten berichteten. Bis die Wissenschaft im 18. Jahrhundert begann, sich für Behinderungen und chronische Krankheiten zu interessieren und aus den Menschen Forschungsobjekte machte. Menschen mit Behinderung waren schon immer da. Was hindert uns daran, auch sie in historischen Stoffen zu erzählen?

Die Existenz von gleichgeschlechtlicher Liebe und ihrem Begehren ist in allen Gesellschaften und Zeiten belegt. Die Quellen reichen bis 12.000 vor Christus! Auch Transsexualität ist als Phänomen spätestens seit der Antike bekannt. Damals nannte es sich noch Geschlechtsrollenwechsel und gab es besonders im religiös-priesterlichen Kontext. Beispiele finden sich besonders in Religionen aus Westasien. In Europa wurde das Thema lange tabuisiert. Ich empfehle hier Recherchen über die Königin Kristina von Schweden (1626-1689), den legendären Chevalier d’Éon (1728-1810), sowie den Chirurgen und Militärarzt James Barry (ca. 1789-1865). Belege für den Umgang mit intersexuellen Menschen reichen bis in die Frühe Neuzeit und zeugen von Verehrung bis hin zu Tötungsdelikten. Menschen aus den LGBTTIQ*-Spektrum waren schon immer da und hatten bewegte Leben. Was hindert uns daran, auch sie in historischen Stoffen zu erzählen?

Last but not least: Was ist mit Schwarzen, Indigenen und Menschen of Color in historischen Stoffen? Ihr ahnt es schon, auch die gab es schon vor unserer Zeit. Sogar in Deutschland des 18. Jahrhunderts. Schwarze Menschen waren in dieser Zeit oft Kammerdiener, gelegentlich auch Musiker oder Professoren, wie Anton Wilhelm Amo. Um den Rahmen dieses Textes nicht zu sprengen, empfehle ich das Buch von Tupoka Ogette, „Exit Racism“. Es enthält ein ganzes Kapitel über die Kolonialgeschichte Deutschlands. Und wer mehr über Schwarze Menschen im Nationalsozialismus lesen möchte, kann hier mit dieser Lektüre anfangen. Ganz nebenbei gemerkt: Migration ist kein Phänomen dieses Jahrhunderts. Unter anderen waren jüdische und türkische Menschen auch in anderen Zeiten Teil dieser Gesellschaft. Menschen mit Migrationserfahrung und deren Nachfahren waren schon immer da. Was hindert uns daran, auch sie in historischen Stoffen zu erzählen?

Der Kern des Problems

Auffällig ist, dass sowohl Menschen mit Behinderung als auch Schwarze und Menschen of Color früher oft den Hof weißer Menschen in Europa geschmückt haben. Als Diener oder Narren waren sie gern gesehen. Aber auch als Objekte – entweder für Schaulustige oder für die Wissenschaft. Und damit kommen wir langsam zum eigentlichen Kern der Frage nach Diversität in historischen Stoffen. Erzählen wir Menschen aus marginalisierten Gruppen in historischen Stoffen, gehen wir das Risiko ein, Diskriminierung zu reproduzieren.

Ein Weg damit umzugehen, zeigen die beiden viel besprochenen Serien „Bridgerton“ (Netflix) und „The Great“ (Hulu). In beiden Serien wird das praktiziert, was man Blind Casting nennt. Statt die Andersheit zu thematisieren bzw. zu kontextualisieren, werden die Rollen besetzt, ohne auf ethnische Zugehörigkeit, Körper oder Geschlecht der Schauspieler:innen zu achten. Diese Herangehensweise findet oft auch in Ton und Kostüm Anklang. Die Musik im historischen Film ist oft modern, die Kostüme absichtlich nicht getreu der Zeit, in der die Geschichte spielt. Genau diese Mischung macht der Film oder die Serie so sehenswert. Denn ein wichtiger Grund, warum wir uns für einen historischen Stoff entscheiden, ist, aus der Perspektive des Vergangenen die Gegenwart zu reflektieren und ein bestimmtes Thema anzustoßen. Nicht umsonst heißt es bei “The Great” „an occasionally true story“, eine manchmal wahre Geschichte.

Was machen wir also mit historischen Stoffen mit Realismus-Anspruch? Müssen sie nicht doch marginalisierte Gruppen so darstellen, wie sie früher lebten, oder eben gar nicht, weil sie nicht dem Milieu angehören, das erzählt wird? Kleinwüchsige Menschen waren keine Kurfürsten in den 1700ern, Schwarze Menschen keine Polizist:innen in den 1920ern Jahren. Oder gibt es doch Aspekte, die sie in einer Erzählung einbringen könnten, die den Stoff relevanter machen? Ich denke an die Figur Wolfgang von Boost in „Ku’damm 59“, der seine Homosexualität im Verborgen auslebt. Ein anderes, gutes Beispiel findet sich in der 4. Staffel von „The Crown“ . In Folge 7, „The Hereditary Principle“ („Die Erblinie“), sucht Prinzessin Margaret aufgrund ihren psychischen Probleme Hilfe und entdeckt zwei Cousinen mit kognitiver Beeinträchtigung, die abgeschottet in einer Institution für psychische Kranke leben. So sehr sich „The Crown“ die Freiheit nimmt, nicht ganz geschichtstreu zu sein, erzählt die Serie hier tatsächlich von einer wahren Begebenheit. Dieser Blick erlaubt dem Publikum, kritisch zu hinterfragen, wie wir Menschen ausschließen. Der Stoff gewinnt an Relevanz.

Für mich ist Relevanz das Wort, was ich der Angst, Diskriminierung zu reproduzieren, entgegensetzen würde. Menschen aus marginalisierten Gruppen in historischen Stoffen auszulassen, heißt, ihre Existenz zu negieren. Sie zu erzählen bedarf Recherche. Aber historische Stoffe bedürfen ohnehin viel Recherche. Dafür wird der Stoff aufgewertet. Wir sagen in unseren Workshops: Vielfalt passt zu allen Stoffen. Nach der kleinen Denkreise inkl. Recherche für diesen Text glaube ich das mehr denn je.

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