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Und wenn ja, wie viele

(c) BfvE

Das wird ein persönlicher Text. Dieser Satz fiel beim Austausch, den Johanna und ich vor dem Schreiben des Blogbeitrags hatten. Meine Texte leben immer von meiner Perspektive auf die Welt. Hier werde ich das allerdings auf einer anderen Art machen müssen als sonst. Doch, bevor es ganz persönlich wird, muss ich etwas Kontext bieten: In diesem ersten Halbjahr 2021 ist die Anzahl der Workshops, die wir geben, sehr gewachsen und wir haben entschieden, uns supervisorisch begleiten zu lassen. Diese Idee gab es zwar schon sehr früh, doch erst jetzt sind wir dazu gekommen. Aber worum geht es in diesem Text eigentlich?

Von der Betroffenen zur Aktivistin

Um diese Frage zu beantworten, muss ich ein bisschen ausholen. Ich lebe in Deutschland seit ziemlich genau 28 Jahren. Es hat mindestens zehn Jahre gedauert, bis ich wenigstens für mich formulieren konnte, dass ich von Rassismus betroffen bin. Als weiße Lateinamerikanerin konnte das in meiner Vorstellung gar nicht sein. Den Exotismus, der mir begegnete, deutete ich daher oft als Sexismus. Ab dem Moment, an dem ich begann, als Autorin zu arbeiten, bezeichnete ich mich selbst als Autorin mit Handicap, da ich zwar auf Deutsch schrieb, aber nicht als Muttersprachlerin. Als mir in einem Writer’s Room der Mund von einer Kollegin verboten wurde, weil sie meinen Akzent nicht mehr ertragen konnte, machte ich nach einem Augenblick des Verstummens einfach weiter. Und als ich schließlich begann, etwas in dieser Gesellschaft bewegen zu wollen, wählte ich den Zugang über den Feminismus. Schließlich lag er durch mein Heranwachsen als nicht heterosexuelle Frau in einer zutiefst patriarchalischen Gesellschaft nahe.

Der Beginn der Arbeit unseres Büros für vielfältiges Erzählen brachte eine Wende in mein Leben: Durch die Bücher, die Johanna mir empfahl, fand ich eine Sprache, um über meine Diskriminierungserfahrungen zu sprechen. Im Kontext unserer Zusammenarbeit darüber zu reden, wirkte auf mich wie eine Befreiung. Mein erster Auftrag für das Büro war dann kein Workshop, sondern eine Keynote vor etwa 70 jungen Erwachsenen mit dem schönen Titel „Eine Brückenbauerin erzählt“. 45 Minuten erzählte ich über das, was ich in Brasilien war, und was ich im Lauf meines Lebens in Deutschland wurde. Über die Zuschreibungen – dort wie hier. Über meinen Plan, eine Autorin wie jede andere deutsche Autorin zu sein. Über meine Bemühungen, nicht markiert zu werden, und das Begehren, als das, was ich alles bin, nicht nur gesehen, sondern auch nicht diskriminiert zu werden. Auch darüber, wie wichtig es ist, dass wir die Unterschiede zwischen uns – und auch den Schmerz, der damit einhergeht – anerkennen, um uns dann mit den Gemeinsamkeiten zu beschäftigen. In diesem Moment wuchs ich über meine Betroffenheit hinaus und wurde: eine Aktivistin!

Von der Aktivistin zur Expertin

Durch das Benennen der Diskriminierung, die mir widerfuhr, empowerte ich mich. Aber die Arbeit war damit noch nicht getan. Es kamen weitere Bücher und das dramaturgische Modell, denn schnell stellten wir fest: Eine Sensibilisierung für Diversität ist gut und notwendig in der Auseinandersetzung mit dem Thema, aber nicht ausreichend. Die Teilnehmenden* in unseren Workshops wünschen sich einen Weg – und ein Instrument, um diesen Weg zu beschreiten. Als wir nach Weihnachten 2019 in der brandenburgischen Pampa mit einem Buch von Mai-Ahn Boger in die Klausur gingen, verstand ich, dass meine Entwicklung erst am Anfang war. Das Modell, was nicht nur ein dramaturgisches Konzept ist, sondern eine Analyse des gelebten Umgangs mit Diskriminierung, ließ mich über meine Position als Betroffene nachdenken. Es machte mir klar, warum Aktivismus in der Dramaturgie wichtig und die Zeit jetzt reif dafür ist. Und es gab mir auch – zusammen mit weiteren Büchern, Podcasts, Filmen – eine neue Stimme: Vor kurzen wurde ich zum ersten Mal für eine Podiumsdiskussion als Expertin eingeladen.

Ende gut, alles gut? Nun. Ich stehe jetzt in den Workshops neben Johanna als Autorin of Color – natürlich auch als queere Frau, denn als Aktivistin markiere ich mich selbst – und als Expertin für Diversität. Aber leider höre ich deswegen nicht auf, von Diskriminierung betroffen zu sein.

Verwundbarkeit

In meiner Rolle als Expertin fühle ich mich geschützt, denn ich kann Diskriminierung in einem Kontext sehen. Dennoch bin ich auf einer Podiumsdiskussion oder in Workshops zugleich exponiert. Der Kontakt mit Menschen, die erst beginnen, sich mit Diversität auseinanderzusetzen und möglicherweise noch keinen Kontakt mit struktureller Diskriminierung hatten, führt bei mir hin und wieder zu einer gewissen Müdigkeit. Und als Betroffene kommt es schon mal vor, dass ich mich verletzt fühle. Das unterscheidet meine Perspektive von der Johannas. Meine Kollegin ist unermüdlich in ihren Antworten: Natürlich ist Diversität kein Trend, sondern die dringende Frage nach Repräsentation. Und ja, Vielfalt passt zu jedem Stoff, egal ob zu Fantasy oder einem historischen Stück. Selbstverständlich kann man Comedy machen, ohne alte, verletzende Stereotype zu bedienen. Im Übrigen muss Diskriminierung nicht zwanghaft Thema sein, wenn diverse Figuren erzählt werden. Und so weiter und so fort.

Als Expertin verstehe ich, dass diese Fragen und Antworten am Anfang eines Prozesses der Sensibilisierung stehen. Wer sich seiner Privilegien bisher nicht bewusst war, versteht mitunter noch nicht ganz, dass in diesen Fragen das Ausblenden von Erfahrungen von Menschen stattfindet. Ich weiß, dass ich nicht persönlich gemeint bin. Und doch erfordert es von mir eine hohe Konzentration, diese Antworten zu geben, ohne mich persönlich zum Kampf aufgefordert zu fühlen. Bei aller Expertise und Aktivismus stelle ich fest, dass ich meine eigene Diskriminierungserfahrung nicht ausblenden kann – vielleicht auch nicht darf – wenn ich Workshops gebe oder auf Podien spreche. Was ist also die Lösung, damit dieses Gefühl der Müdigkeit oder gar der Verletzung nicht bei mir bleibt und mich herunterzieht? In der Supervision lerne ich, diese Fragen und die Haltung dahinter in der Zusammenarbeit zu spiegeln, mich verwundbar zu zeigen und an die Gruppe oder an die Personen zurückzugeben.

Es klingt logisch, einfach ist es nicht. Sich verwundbar zu zeigen, heißt für mich, in diesem Augenblick mich ganz in die Rolle der Betroffenen zu begeben. Zurück auf Anfang also? Nicht ganz. Und auch nicht ganz allein. Unmittelbar neben mir steht meine Kollegin Johanna, nicht nur belesen, sondern unfassbar sensibel und sensibilisiert – eine Verbündete, die es in sich hat. Aber auch in der entsprechenden Sachliteratur finde ich Trost und Bestätigung. Nur um eine Handvoll zu erwähnen: Emilia Smechowski, Alice Hasters, Mohamed Amjahid, Emilia Roig beziehen sich auf ihre eigenen Erfahrungen mit Diskriminierung, auch sie machen sich verwundbar, um der Gesellschaft zu spiegeln, wie es sich anfühlt, als Andere* markiert und zugleich als Einzelne unsichtbar gemacht zu werden. Wenn ich sie lese, erwacht in mir wieder die Aktivistin. Und die ist unermüdlich, sich zu kümmern, dass Diversität keine Eintagsfliege bleibt.

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