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Vom Verlernen

Das Büro für vielfältiges Erzählen beim Verlernen. Supervision im Sommer 2022.

Ein antidiskriminierendes Maßnahmenpaket

Wer irgendwas mit Medien macht, trägt Verantwortung. In vielerlei Hinsicht. Wir finden, dass es eine der wichtigsten Verantwortungen ist, sich den eigenen Standpunkt bewusst zu machen. Die Perspektive zu reflektieren, die wir gelernt und übernommen haben, bevor wir Worte hatten, um sie zu beschreiben. Eine Perspektive in einer und auf eine Welt, die diskriminierend ist.

Wir tragen keine Schuld an unseren Vorurteilen und Stereotypen. Auch nicht für das erste Bild, das wir haben, wenn wir das Wort „Ärzte“ hören und eine Gruppe von weißen, mittelalten Männern vor Augen haben oder wenn jemand uns von einem “Pärchen” erzählt und wir direkt einen Mann und eine Frau sehen. Das alles haben wir erlernt und übernommen. Aber als Medienschaffende ist es unsere Verantwortung, bewusst die engen, stereotypischen und diskriminierenden Bilder, die wir haben, zu reflektieren und zu überschreiben. Wir tragen Verantwortung für unser zweites Bild. Verlernen, so wird dieser Prozess auch genannt. Der Prozess, die eigenen Unconcious Bias, die unbewussten Vorurteile, zu hinterfragen und diskriminierende Bilder und Verhaltensweise durch neue, inklusivere zu ersetzen.

Der erste Schritt des Verlernens ist, sich bewusst zu machen, dass es nicht für alle gut ist, wie es jetzt ist. Unsere eigene Perspektive weist viele tote Winkel auf. So nennen wir das, was landläufig gerne als „blinde Flecken“ bezeichnet wird. Diesen Begriff halten wir zum einen für ableistisch, aber auch für irreführend. Denn gegen blinde Flecken lässt sich nichts unternehmen. Bei toten Winkeln hingegen helfen Rückspiegel oder auch der Schulterblick, um die Perspektive zu erweitern und um zu verhindern, dass im Straßenverkehr Menschen oder Dinge zu Schaden kommen. Das erscheint uns das angemessene Bild für das, was wir hier beschreiben möchten. Mit dem metaphorischen Schulterblick zeigen wir unsere Verantwortung für die notwendigen Veränderungen in der Medienbranche.

Wenn wir den Schulterblick wagen, passiert folgendes: Wir sehen, dass Menschen nicht die gleichen Chancen haben wie wir. Wir beginnen zu erkennen, welche Mechanismen dazu führen, dass sie immer wieder ausgeschlossen werden. Der Schulterblick kann destabilisieren und es kommt zu vielen Unsicherheiten. Die Antirassismustrainerin Tupoka Ogette nennt das Happyland verlassen. Schuldgefühle überkommen uns, Wut und Frustration. Das ist die eine Seite. Wenn wir erkennen, dass wir nicht betroffen sind. Aber auch die andere Seite durchläuft die Schritte des Verlernens. Denn egal, ob wir von Diskriminierung betroffen sind oder nicht, wir alle wachsen in denselben Strukturen auf.  Internalisierter Sexismus, Rassismus, Ableismus, Klassismus und Queerfeindlichkeit sind keine Seltenheit. Und wenn wir selbst von Diskriminierung betroffen sind, ist meist Hoffnungslosigkeit dabei.

Und mit diesem Prozess entsteht für uns alle die Frage: Was darf ich erzählen? Das greift unserer Meinung nach zu kurz. Die Frage sollte sein: Was kann ich erzählen und was will ich erzählen, nachdem ich erkannt und anerkannt habe, dass es nicht für alle gut ist, wie es ist, und meine Perspektive bereits erweitert habe. Für alle, die diese Gefühle bereits haben: Willkommen im zweiten Schritt des Verlernens!

Der zweite Schritt besteht darin, aktiv und in täglichen Übungen den Schulterblick für fremde Perspektiven zu trainieren. Das ist Voraussetzung, um im Dialog auf Augenhöhe mit anderen Perspektiven zu sein. Das bedeutet nicht, marginalisierten Menschen eine Stimme zu geben, die sie schon längst haben, sondern zuzuhören und dabei zu schweigen und diese Perspektive anzuerkennen, ohne Deutungshoheit. Das klingt nach viel. Das stimmt. Und nach Muskelkater. Ja, vielleicht, am Anfang. Aber beim regelmäßigen und bewussten Perspektivwechsel entsteht die Fähigkeit, Dinge zu sehen, die man vorher nie sah. Gefühle zu haben, die man vorher nie hatte. Es ist eine Bewusstseinserweiterung im wahrsten Sinne des Wortes! Dafür lohnt es sich und natürlich für die ernsthafte Auseinandersetzung mit Inklusion und Antidiskriminierung. Denn durch das Training können wir mehr und mehr verhindern, dass die „gute Absicht“, die wir haben, doch eine schmerzhafte Wirkung hat und somit nur eine fahle Ausrede bleibt, die nicht wirklich die diskriminierenden Strukturen kritisch hinterfragt und bekämpfen möchte. Wir können unseren Teil der Arbeit machen, bestimmte Perspektiven mitzudenken und somit Schmerzen verhindern, die nicht nötig gewesen sind.

Damit einher geht auch die Entwicklung von Empathie. Denn auch Empathie ist erlernbar. Empathie ist ein gutes Messinstrument über Machtstrukturen in der Gesellschaft. Mit wem können wir empathisch sein, mit wem nicht? Wir lernen in der Regel nur mit denen empathisch zu sein, die in der gesellschaftlichen Hierarchie machtvoller sind als wir. Deshalb sind queere Liebesgeschichten Geschichten nur für die Community und weniger für alle. Deshalb wird Kindermedienmacher:innen empfohlen lieber Jungen als Hauptfiguren zu wählen, weil Mädchen sich auch mit diesen identifizieren, andersherum aber eher nicht. Emilia Roig bezeichnet das als Empathie-Lücke! Es ist also unsere Verantwortung als Medienmacher:innen, diese Lücke zu schließen.

Das geht dann schon in Richtung inklusivem Handeln, dem dritten Schritt. Dieser ist voller Hoffnung, und das bereits im Kleinen. Er besteht vor allem darin, die erkannte Verantwortung auf allen Ebenen umzusetzen. Im Alltag und das am besten gleichzeitig privat und professionell. Dazu müssen wir unsere eigene Herkunft und Sozialisation anerkennen und uns wohl damit fühlen. Die Schuld hinter uns lassen oder aber auch die Wut und den Schmerz. Diese Gefühle kanalisieren und die Energie in die Veränderung stecken. Der Erziehungswissenschaftler und Anti-Bias-Trainer Prasad Reddy nennt es eine inklusive Identität entwickeln. Und das gemeinsam. Gemeinsam mit allen. Mit allen in ihren Unterschiedlichkeiten. Audre Lorde, die Queen des Dialogs und des intersektionalen Blicks hat es in ihren Worten so zusammengefasst: “It is not our differences that divide us. It is our inability to recognize, accept, and celebrate those differences.” Nur so können wir gesellschaftlich, in Unternehmen, aber auch in kreativen Prozessen der Stoffentwicklung wachsen: Indem wir uns vor unseren Differenzen verbeugen und sie feiern. 

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